Dr. Christian Fuchs, Indologe, über Tantra

(Dr. Fuchs ist Indologe und im Vorstand des Berufsverbandes Deutscher Yogalehrer für Öffentlichkeitsarbeit tätig)

Der Tantrismus ist eine der buntesten und schillerndsten Blüten der indischen Kultur, ähnlich wie die geistigen Bewegungen der frühen Upanishaden-Zeit der epischen Tradition, kann man ihn sicher als kulturelle Revolution bezeichnen. Vielleicht war er das sogar in noch größerem Maße als alle anderen Bewegungen vor und nach ihm. Denn der Tantrismus stellt quasi die ganze Religionswelt auf den Kopf.

Die Grundtexte des Tantrismus – die Tantras und Agamas – bezeugen, daß auch der Tantrismus aus einem Randbereich der etablierten Kultur kam. In diesem Falle ist das sogar “handgreiflich” in geographischem Sinne zu verstehen. In den nord-westlichen und nord-östlichen Randzonen Indiens entstand etwa ab dem sechsten Jahrhundert n. Chr. eine Kulturströmung, die alle wesentlichen Dogmen der bekannten Religionswelt umwertete. Der Tantrismus postulierte eine radikale Hinwendung zur Welt. Die Welt war nicht mehr “lauter Übel” (sarvam duhkham) wie in vielen Upanishaden, auch nicht mehr Stätte der Pflicht (dharmaloka), wie in den Epen, sondern Stätte des Genußes (bhogaloka), Gottes “süßes Spiel” (Lila).

Es ist ein Grundgedanke des Tantra, daß der Mensch durch das Leben hindurchgehen müsse, und zwar nicht, indem er sich von der Natur abwendet, sondern indem er sie benutzt.

So entdeckte der Tantrismus den ganzen Bereich der erotischen Sinnlichkeit, die vor allem durch die asketisch orientierten Sekten religiös verbrämt worden war. Die verdrängte Weiblichkeit kam (wieder) zu ihrem Recht: auf der metaphysischen Ebene durch die Aufwertung der weiblichen Ur-Kraft (shakti), auf der gesellschaftlichen Ebene durch eine religiöse Gleichwertigkeit der Frauen, die jetzt verstärkt auch Lehrer (guru) waren.

So entdeckte der Tantrismus den menschlichen Körper. Auch war er jetzt nicht mehr die “Quelle der Schmerzen”, sondern der “Tempel Gottes”. In der radikalen Kosmo-logisierungstendenz des Tantrismus wurde der Körper – das Abbild der Welt – zum perfekten Werkzeug für die Befreiung. Für den Tantriker mußte der Körper so lang als möglich und in vollkommenem Zustand erhalten werden, gerade um die Meditation zu erleichtern.
So entdeckte der Tantrismus den rituellen Genuß (bhoga). Durch die Integration sinnlicher Elemente (z. B. der rituellen Verschmelzung – “maithuna”) in den tantrischen Übungsweg (sadhana), wurde Bhoga neben Yoga zum Eckpfeilder der tantrischen Praxis. Ja, es kam sogar zur großen tantrischen Grundregel, – die sich so stark von den frühen hindu-istischen Yogalehren unterscheidet: Yoga (die Anjochung des empirischen Bewußtseins an das transzendente Bewußtsein) und Bhoga (“Genuß”, Erfahrung von Lebensfreude und Leid) sind das Gleiche. Bhoga selbst kann zu einem Lebensweg werden. Aus dieser Geisteshaltung entstand der Hatha-Yoga, die letzte Etappe der indischen Yoga-Geschichte vor dem Übergang in die Moderne. (Ende Zitat Dr. Fuchs)

Tantra im Hinduismus

Im Lexikon der östlichen Weisheitslehren findest Du über Tantra, hinduistisch, buddhistisch, Sanskrit wörtlich: “Gewebe, Zusammenhang, Kontinuum”, hinduistisch: Das Tantra gehört nach dem Veda, den Upanishaden, den Puranas und der Bhagavad-Gita zu den Grundlagen des Sanatana-Dharma, der “ewigen Religion” des Hinduismus. Sein zentrales Thema ist die göttliche Energie und Schöpfungskraft (Shakti), die personifiziert als Devi oder Göttin, die jeweilige Form eines Gottesaspektes als seine Gemahlin darstellt, hauptsächlich als Gemahlin Shivas. Entsprechend Shivas verschiedenen segensreichen oder furchterregenden Formen nimmt auch seine Shakti segensreiche Gestalten wie Maheshvari, Lakshmi, Sarasvati, Uma, Gauri und andere, oder furchterregende wie Kali und Durga an.

Die ebenfalls als Tantra bezeichneten tantrischen Schriften und die tantrische Praxis bergen für Menschen, die nicht gewillt sind, sich einer strengen spirituellen Disziplin zu unterwerfen, Gefahren. Zwei tantrische Schulen haben sich herausgebildet.

1. der ungeläuterte, gefahrvolle Weg des Vamachara (“Linke-Hand-Weg”), der sich ungezügelten Riten und sensuelle Ausschweifungen hingibt;

2. der Dakshinachara (“Rechte-Hand-Weg”) mit einem läuternden Ritual und strenger spiritueller Disziplin, die absolute Hingabe an die göttliche Mutter in ihren mannigfachen Formen fordert.

Jedes Tantra sollte 5 Themen beinhalten:

  1. Die Schöpfung der Welt
  2. ihre Zerstörung oder Auflösung
  3. die Anbetung Gottes in seinem männlichen oder weiblichen Aspekt, d. h. die Anbetung einer der zahlreichen männlichen oder weiblichen Gottheiten
  4. die Erlangung übernatürlicher Fähigkeiten
  5. die verschiedenen Wege der Vereinigung mit dem Höchsten durch entsprechende Meditation

Sie setzen sich aus den verschiedenen älteren Yoga-Praktiken wie Karma-Yoga, Bhakti-Yoga, Kundalini-Yoga und anderen Yoga-Wegen zusammen.

Die tantrischen Abhandlungen sind meistens in Form eines Dialoges zwischen Shiva, dem göttlichen Herrn und seiner Shakti, der göttlichen Energie, abgefaßt. Sie versuchen, den ganzen Menschen zu göttlicher Vollkommenheit zu erheben, indem sie ihn lehren, die kosmische Kraft in sich (Kundalini-Shakti) durch besondere Riten und Meditation zu erwecken.

Fünf Dinge werden für die Riten des Tantra benötigt:

  1. Madya, Wein
  2. Mansa, Fleisch
  3. Matsya, Fisch
  4. Mudra, geröstetes Getreide und mystische Gesten
  5. Maithuna, Geschlechtsverkehr.

(Anmerkung von Lucian: In Punkt vier streiten sich die Gelehrten, in wie weit die fünf M’s wörtlich oder symbolisch zu verstehen sind; 4. z. B. könnte auch Masturbation bedeutet haben)

Eine Einführung in die geistigen Grundlagen des hinduistischen Tantra ist:
A. Bharati, Die Tantra-Tradition, Freiburg 1977

Tantra im Buddhismus

Im Tibetischen Buddhismus ist Tantra die Bezeichnung für verschiedene Arten von Texten (medizinische Tantras, astrologische Tantras, etc.); in erster Linie jedoch Oberbegriff für die Grundwerke des Vajrayana und die von diesen beschriebenen Meditationssystemen. Die Verkündigung der Tantras wird Buddha Shakyamuni zugeschrieben in seiner Manifestation als Dharmakaya (Trikaya). Tantra heißt hier “Kontinuum” oder “System”.

Diese stark auf die menschliche Erlebnisfähigkeit ausgerichtete Überlieferung beschreibt die spirituelle Entwicklung in Hinsicht auf die Kategorien Basis, Weg und Frucht. Die Basis ist die praktizierende Person, der Weg besteht aus den meditativen Pfaden, die diese Basis reinigen, und die Frucht ist der Zustand, den diese Praktiken herbeiführen. Um diese drei Phasen geht es in allen Ausdrucksformen des Tantra.

Die tibetische Tradition spricht von vier “Tantraklassen”: Kriya-Tantra (Handlungstantra), Charya-Tantra (Ausübungstantra), Yoga-Tantra und Höchstes Yoga-Tantra. Die Kriterien für diese Unterteilung sind die Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten der Übenden und der Wirksamkeit der Mittel, die zur Erleuchtung (Bhodi) verhelfen. Zu den wichtigsten Werken des Höchsten Yoga-Tantra zählen z. B. Guhyasamaja-Tantra und das Kalachakra-Tantra. Die “Alten Tantras” der Nyingmapa-Schule unterteilten das Höchste Yoga-Tantra in drei weitere Klassen: Maha-, Anu- und Ati-Yoga (Dzogchen). Diese Tantras akzeptieren die schon immer gegebene Reinheit des Geistes als Grundlage ihrer Praxis; das bekannteste unter ihnen ist das Gyhyagarbha-Tantra.

Das Denken der Tantras in Polaritäten findet seinen stärksten Ausdruck in einer vielschichtigen sexuellen Symbolik. Die Aufhebung der Dualität vom männlichen Prinzip (Methode, Upaya) und weiblichen Prinzip (Weisheit, Prajna) durch ihre Einswerdung wird als herausragendes Merkmal des Höchsten Yoga-Tantra bezeichnet.

Eine Einführung in das Tantra des Tibetischen Buddhismus ist: Tantra in Tibet, Das geheime Mantra des Tsong-ka-pa, hrsg. von J. Hopkins, Düsseldorf/Köln 1980.

Yoga-Geschichte Zeit-Tabelle
(zusammengestellt von Lucian Loosen)

3000-1800 v.Chr.
vorarische Induskultur: Mutterkult, Shaktismus ist eine Philosophie/Religion, die die weibliche fruchtbare Energie betont und über die männliche stellt.
ab 1800 v. Chr.
Arier wandern in mehreren Wellen von Westen nach Nordindien ein. Ihr Glaubenssystem hat eher patriarchale Ausrichtung und beinhaltet Kastenwesen und Reinkarnationsvorstellungen
1500-900 v.Chr.
Im indischen Vedismus werden Naturgötter verehrt und beopfert, z.B. Agni – das Feuer, Vayu – der Wind, Yama – der Totengott; Opfersprüche und Gebete (Mantras) werden benutzt
900-300 v.Chr.
Im Brahmanismus finden Individualisierung der Religion zusammen mit Wiedergeburtsvorstellungen ihren Höhepunkt, verbunden mit Begriffen wie Karma (Tat), Moksha (Befreiung); die hochentwickelten Schriften der Upanishaden entstehen und die Vedanta-Philosopie vom Eins-Sein allen Lebens Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Welt als “Sarva Dukham” angesehen, als “lauter Übel”
ab 560 v.Chr.
Buddhismus: Geburt von Siddhartha Gautama im heutigen Nepal;
Buddha war mit 35 Jahren erleuchtet, hat dann 40 Jahre gelehrt und ist schließlich mit 80 gestorben
ab 300 v. Chr.
Hinduismus mit verschiedenen Unterschulen, jeweils Shiva, Vishnu, Krishna etc. als Hauptgottheit im Mittelpunkt
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Das Yogasutra des Patanjali entsteht: es lehrt klassischen Yoga mit dem sogenannten achtgliedrigen Pfad; hierbei wird ein stufenweiser Entwicklungsweg über Lebensführung im Alltag, Essen, Ruhe, Yoga, Meditation vorgeschlagen.
Die acht Stufen des Raja-Yoga heißen: yama – niyama – asana – pranayama – pratyahara – dharana – dhyana – samadhi
200 n. Chr.
Die Bhagavad-Gita entsteht: eine Art Bibel der Inder, als Teil des großen Epos Mahabharata; karma-yoga, jnana-yoga, bhakti-yoga werden von Krishna zusammenhängend erklärt.
Die Welt wird zur Stätte der Pflicht erklärt (Dharmaloka)
Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten durch Arbeit, durch Erkenntnis und durch Hingabe/Anbetung werden empfohlen
500
Der Tantrismus entsteht als Revolution der indischen Geistes-Welt.
Die Schriften: Âgamas = Schriften über die Verehrung von Siva und Sakti; sowie die Purânas = Legendensammlung zum besseren Verständnis von Brahma, Siva und Visnu
Die Welt wird erstmalig als Stätte des Genusses: Bhogaloka verstanden
1000
Blütezeit des Vamacara Tantra (der linkshändige Weg)
insgesamt war die Blütezeit des Tantra von 600-1200 n.Chr. also ca. 600 Jahre lang; der sogenannte rechts-händige Weg war dagegen mehr philosophisch-asketisch ausgerichtet
1100
mit dem Kulârnava Tantra entsteht in der Sekte der Kaulas das wichtigste der rund 200 shivaitischen Tantras: deutlichste Beschreibung der “unreinen” Riten, verbunden mit Drogen und geschlechtlicher Vereinigung im rituell-religiösen Rahmen
etwa 1200
Entstehung des Mahacinacara Tantra; linkshändiges Tantra; Kula-Lehre. Dieser Text beschreibt teilweise sehr anschaulich die Gebräuche in tantrischen Ritualen
1500
Die Hatha-Yoga-Pradipika entsteht: Hatha-Yoga dient zur Befreiung durch Körperübungen; Urvater des Hatha-Yoga ist Matsyendra, Goraksha ist sein Schüler (Verfasser der Gheranda Samhita)
1892
Neo Hinduismus – Der indische Yogi und Schüler von Ramakrishna Vivekananda spricht 1892 auf dem Weltkongreß der Religionen in Chicago über die universelle Religion und leitet damit erstmals ein größeres Interesse der westlichen Welt an indischer Philosopie ein
ca. 1970
Neo-Tantrismus: über den indischen Guru Bhagwan Shree Rajneesh kommt die Tantra-Idee mit westlicher Psychologie verquickt durch seine Schülerin Margo Anand in den Westen; Die französische Diplom-Psychologin vermag durch Buchveröffentlichungen und Kurse ein breiteres Interesse für Tantra zu wecken
2000
Tantra ist durch viele Bücher, Kurse und Lehrer weltweit im Begriff eine ähnliche Verbreitung wie Yoga 20 Jahre vorher zu erreichen

Über Tantra Geschichte und die moderne Zeit

Insgesamt können wir Indien als die religiöse Wiege der Menschheit betrachten.
Oben siehst Du einen Abriß aus 5000 Jahren Geschichte Indiens. Es ist im wesentlichen die religiöse Geschichte, weniger die kulturelle und politische.

Über das Studium der Geschichte und Philosophie erkennen wir, daß Tantra viel mehr ist als es heute manchmal in den Medien verunglimpft wird, wie z.B. als ein “Rudelbums” oder “Gruppenverschmelzung mit Räucherstäbchen”. Es ist tatsächlich eine gewachsene und gereifte geistige Tradition.

Die Tantriker teilen sich in zwei Klassen: Die Dakshinâcâris(dakshina = rechts, höflich, dezent) vollziehen die Riten mehr im geistigen Bereich die Vâmâchâris (vama = links, hart, unsauber) im Körperlichen. Diesen Bezeichnungen liegt zugrunde, daß in Indien die befleckenden Tätikgkeiten immer mit der linken Hand ausgeführt werden. Mit der rechten wird gegessen.

Auch die Unterscheidung von weißem, rotem und schwarzem Tantra ist gebräuchlich. Weißes Tantra bedient sich der Philosphie, aber führt keine körperlich-sinnlichen Riten aus. Rotes Tantra wäre ein sinnlich verstandener Weg, der die sensuelle Vereinigung mit einbezieht. Schwarzes Tantra wäre eine Form der Magie, die zum Ziel hat, anderen Menschen zu schaden oder egoistische Vorteile zu bewirken.
Kularnava® -Tantra® ist eine Form des roten Tantra-Weges.

Ein Yogi ist traditionell ein Welt-Entsager. Ein Bhogi ist wörtlich ein Weltesser = Genießer von sinnlichen Gelüsten, z.B. Nahrung, , Herrschaft. Der Tantriker bejaht den Körper, lebt die Sinnesreize aus und findet so zur Harmonie von Mensch und Natur.

Bestandteile des linkshändigen Rituals sind:
Die 5 Mâkaras (Mâkara = Buchstabe M)
Das klassische “Pancha Makara Ritual” setzt folgende Elemente ein:

1) madya: Wein, Branntwein
2) matsya: Fisch
3) mamsa: Fleisch
4) mudrâ: pflanzliche Erregungsmittel, Geste
5) maithuna: Geschlechtsakt

Das alte Tantra und unsere moderne westliche Kultur
Die geistige Revolution des Tantra in der indischen Geschichte erinnert an unsere 68’er Studenten-Revolte und den Ursprung der Hippie-Bewegung in den USA vom Woodstock-Festival: Freie Liebe, der freizügige Gebrauch von Rauschmitteln, Musik und Gefühle sollten im Vordergrund stehen. Weltfrieden und harmonischer Umgang zwischen Mensch und Natur waren die Ideale. Mit dem Woodstock-Festival nahm auch eine weltweite Bewegung ab 1970 ihren Anfang: Die Öko-Bewegung (Zurück zur Natur!); Die neue Frauenbewegung (Mehr Anerkennung und Respekt für die weiblichen Werte!), die New-Age-Bewegung und Esoterik-Welle (Die Suche nach dem Sinn des Lebens und der spirituellen Befreiung). Genau diese Werte finden wir im alt-indischen Tantra wieder. Sie entsprechen auch in Teilen der Neo-Tantra-Bewegung ab 1970. Der Hauptunterschied ist aber, daß das ursprüngliche Tantra niemals mit Zügellosigkeit oder Promiskuität verbunden war. Es waren immer auch die asketischen Aspekte des Yoga enthalten und die Verehrung von Göttern: Sakti – Siva.

Nur wer den Verlockungen der fünf Makaras nachgibt, kann sie nach Überzeugung der vâmâchâryas auch überwinden. Shiva warnt vor banaler Genußsucht und verlangt, daß die fünf M’s unter Aufsicht eines Gurus im Gruppenritual praktiziert werden, damit aus vordergründigem Genuß schließlich Vergeistigung wird.

Der wichtigste Tantra-Text, das Kulârnava Tantra, enthält bittere Anklagen gegen den lebensfremden Bußkatalog der orthodoxen Brahmanen, mit denen diese in erster Linie ihre gesellschaftliche Überlegenheit und ihr Einkommen sichern wollten. Aber die absolute Freiheit lehrt Shiva auch nicht: Genuß ja, aber nur im rituellen Rahmen.

Die tantrische Revolution im alten Indien war eine Volksreligion. Es war ein Bruch mit den vedischen Werten. Eine Bewegung der Wieder-Hinwendung zur Natur und Weiblichkeit. Yoga und Welt waren nicht mehr getrennt. Der Tempel war nicht mehr außen, sondern nun war der eigene Körper und der Körper des Ritual-Partners die Stätte der Anbetung. Das Ziel von Tantra ist aber das Gleiche geblieben wie in den früheren spirituellen Bewegungen: Moksa, d.h. Befreiung. Und: Die Einheit in der Dualität erleben.

Der Körper wurde zum Symbol der Welt. Mikrokosmos und Makrokosmos sind eine Entsprechung.

Interessant ist es, die Weltsicht des Tantra als Polarität zu studieren:

siva – sakti
männlich –  weiblich
statisch – dynamisch
liegend – tanzend
transzendent – immanent
Geist – Körper
Bewußtsein – Energie
usw.

Auffallend ist hier die Sichtweise von männlich und weiblich. Das ist im Tantra genau das Gegenteil zu unserer Sichtweise im Abendland, nämlich männlich = aktiv und weiblich = passiv. Der Tantriker benutzt die Polarität, um in der Vereinigung zur Ekstase zu kommen. Dann kehrt er aber wieder zurück in die Polarität und vollzieht das Spiel von Neuem. Es wird also kein End-Zustand der Erleuchtung angestrebt in dem Sinne, das der Mensch nicht mehr wiederkehrt oder den Körper geringschätzt und verläßt. Das ist auch ein Hauptunterschied zu den meisten anderen spirituellen Richtungen. Es ist ein Ehren der Erde, mit ihrer Polarität und mit ihrer Begrenzung.

Es folgen noch einige wichtige Begriffe der Tantra-Philosophie, die zugleich auch Psychologie und eine Physiologie ist. Diese sollte jeder kennen, der sich mit Tantra beschäftigt.
bindu
Punkt im Zentrum eines Yantras (geometrische Meditations-Figur); auch Wort für Samen
soma
Göttertrank mit zauberhaften rauschartigen Auswirkungen; auch Wort für Samen
candra
Mond, Symbol des Wasserelementes; auch Wort für Samen
ida
weiblicher Energiestrom im Körper
pingala
männlicher Energiestrom im Körper
susumna
feinstofflicher Wirbelsäulen-Mittelkanal
cakra
Energiezentrum, davon gibt es sieben Hauptzentren im Körper, entlang der Wirbelsäule von unten nach oben angeordnet
nadi
feinstofflicher Energiekanal im Körper, davon gibt es nach der Lehre der Yogis 72000 im Körper (entspricht vom Prinzip her der chin. Meridian-Lehre)
kundalini
Schlangenkraft, als Schöpferkraft im Becken schlafend, soll durch Tantra-Übungen erweckt werden; “kundala” wörtl. Sanskrit: “Das Zusammengerollte”.

Der Äskulap-Stab, das griech. Symbol der Heilung, ist bildlich die Susumna. Der Stab ist umwunden von der Schlange, Symbol für kundalini oder auch ida/pingala.

Ziel des Tantra-Yoga ist die cakra-Aktivierung durch Aufstieg der Kundalini vom Wurzel- bis zum Scheitelcakra. So sollen höhere Entwicklungs-Stufen erreicht werden, Reinigung findet statt, Vereinigung der Polaritäten, Verschmelzung und Befreiung.