Lucian Loosen über die Bedeutung des Tantra

Das Wort Tantra entstammt dem altindischen Sanskrit und heißt wörtlich: “Gewebe, Zusammenhang, Kontinuum”. Du findest im Wörterbuch auch “Tantra”: 1. Webstuhl, Webkette, Gewebe; 2. Grundlage, Norm, Regel; 3. Lehrbuch, Lehre; 4. Literaturgattung magisch-mystischen Inhalts; 5. Zauberformel; 6. Mittel, Trick; 7. Arzneimittel; 8. Autorität; 9. Saite.

Das Sanskritverb “tan” heißt ausbreiten, ausdehnen, das Suffix “tra” bedeutet, daß etwas für eine andere Sache gut geeignet ist. So ist ein Mantra (man: denken) gut für das Denken, ein Yantra (yan: halten) gut zur Stütze, Tantra ist also etwas, das die Ausdehnung fördert, und zwar die Ausdehnung des feinstofflichen Körpers; es meint aber gleichzeitig, diese Ausdehnung selbst, und obendrein bezeichnet es auch ihre Wirkung.

a) Die Philosophie

Das Tantra ist ein ganzheitlicher Weg zur Verwirklichung Höchster Liebe. Das Tantra ist ein Übungsweg mit einer breitgefächerten Vielzahl an Methoden, Techniken und Ritualen. Das Ziel ist die höchste menschliche Verwirklichung.

Darunter ist ein Zustand größtmöglicher Erfüllung und Befriedigung zu verstehen. Das ist eins mit dem, was im Osten Erleuchtung, Nirvana oder Samadhi, d. h. absolute Verwirklichung genannt wird.

Es geht um das Bewußtsein, in dem der Mensch in tiefstem Frieden ist und höchster Glückseligkeit zugleich. Das ist Ekstase, das höchste Entzückt- und Verzückt-Sein.

Es ist ein Zustand, wo alle menschliche Sehnsucht gestillt und jeglicher Kampf und Schmerz beendet ist. Damit hat die Tantrikerin/der Tantriker die ganze Schöpfung verstanden. Sie/Er ist eins damit, die Trennung und Abspaltung ist beendet. Sie/Er schwingt vollkommen und im Strom des Einverstanden-Seins.

Es gibt nichts Schöneres, als solchen Menschen zu begegnen, denn diese beseligende Verzückung ist höchst ansteckend. Auf das Erreichen dieses Zieles ist der ganze Tantra-Weg ausgerichtet. Somit will Tantra genau wie Yoga die Vereinigung des Menschen mit seinem ursprünglichen natürlichen Zustand wiederherstellen. Es geht um nichts anderes als wahre Selbsterkenntnis, und die Entdeckung des wirklichen “Ich”.

Dieser abenteuerliche Weg der Selbstentdeckung ist lohnend. Es gibt nichts Wichtigeres, als den Sinn Deines Lebens zu verwirklichen.

b) Die Rolle des Körpers

Im Vergleich zu vielen spirituellen Richtugen und Übungswegen fällt im Tantra die starke Bejahung und Betonung des Körpers auf. Für die Tantrikerin/den Tantriker ist der Körper die Wahrheit, der Weg und das Leben. Der Körper in seiner Unvollkommenheit ist so vollkommen wie er ist. Der Körper ist Fahrzeug und Werkzeug zur Erleuchtung. Der Körper ist der geheiligte Tempel des Göttlichen. Der Körper ist das wunderbare Musikinstrument, auf dem das Göttliche seine Musik ertönen läßt. Der Körper ist das ästhetische Gewand und Ausdruck der Seele. Der Körper ist der Mikrokosmos, der den Makrokosmos, d. h. die ganze Schöpfung wiederspiegelt. Die Tanrikerin/der Tantriker entdeckt und versteht darin die Gesetzmäßigkeiten und das intensive Spiel der Gegensätze. Das ganze Universum wird als kosmisches Spiel “Lila” begriffen.

Die Gegensätze heißen im Tantra Shakti (das urweibliche, dynamische Prinzip) und Shiva (das urmännliche, statische Prinzip). Shakti und Shiva erscheinen als:

Yin – Yang
Mond – Sonne
Schwarz – Weiß
Nacht – Tag
Kalt -Warm
Einatmen – Ausatmen
Körper – Bewußtsein
Materie – Geist
Unten – Oben
Yoni – Lingam (Scheide – Penis)
usw. – und natürlich als
Frau – Mann

Das Tantra ist somit ein Weg, der Gegensätzlichkeit bejaht und akzeptiert. Tantra heißt, nichts auszuschließen. Schwarz und weiß, weiblich und männlich werden als gleichwertige Manifestation der göttlichen Energie verstanden. Für die Tantrikerin/ den Tantriker gibt es nichts Schlechtes oder Falsches, von dem sie/er sich absondern müßte. Es gibt keine Moral und keine starren Regeln. Das Leben selbst ist der Meister.

Die Tantrikerin/der Tantriker muß nichts bekämpfen, unterdrücken oder ablehnen. Es gibt nicht Schmutziges, Verkehrtes oder Verwerfliches in dieser Schöpfung. Der Geist der Tantrikerin / des Tantrikers wird so weit, daß immer mehr darin Platz hat. Sie/Er wird zum Gefäß, das alles aufnehmen kann. Eine Leere entsteht, die von allem erfüllt werden kann. Der Geist der Tantrikerin / des Tantrikers ist somit höchste Ehrfurcht vor allem Leben, egal ob es sich schwarz oder weiß, schön oder häßlich, jung oder alt, wonnevoll oder schmerzlich manifestiert. Die Tantrikerin/der Tantriker gibt sich hin und fließt mit, ohne Widerstand zu leisten. Dadurch wird ihr/sein Wesen auf ein enorm hohes Energieniveau gehoben. Das ist der Weg der Ekstase – der Weg höchster Glückseligkeit. Die Tantrikerin / der Tantriker läßt sich von allem Leben anrühren. Auch zerstörerische Aspekte wie Wut oder Zorn (Kali/Shiva) sind Teil der göttlichen Energie.

Die Tantrikerin / der Tantriker möchte das Spiel von Shiva und Shakti bewußt erleben und auch, wenn es sein soll, die Vereinigung der Gegensätze geschehen lassen. Die Tantrikerin / der Tantriker braucht nichts zu zwingen, da sie/er weiß, das ohnehin alles zum Besten geschieht. Der Körper braucht nicht sublimiert oder abgestoßen zu werden, um Gott zu verwirklichen, sondern der Körper ist Gott, der Geist hat es nur noch nicht verstanden. Damit er’s versteht, üben wir Tantra. Die Tantrikerin/der Tantriker vereint zwei Strömungen: den Körper zu vergeistigen und den Geist zu verleiblichen. Daraus entsteht das alchemistische Gold, das leuchtende Herz. Im Tantra geht es nicht darum, etwas Neues auf unser Mensch-Sein zu packen, sondern darum:

das Wunder zu entschleiern, das wir jetzt schon sind.

Es soll uns erwecken, aus unserer Trance und ins wirklichwache Sein führen, jenseits von Problemen, Sorgen und Verwicklungen des Geistes.

c) Die Sinnlichkeit

Das Besondere an Tantra ist das Ernstnehmen unserer Sinnlichkeit. Tasten, Riechen, Schmecken, Hören, Sehen sind göttliche Fähigkeiten, wenn sie richtig kultiviert werden. Es sind die Tore der innersten Glückseligkeit. Es sind die Tore zur höchsten Selbst-verwirklichung. Der ganze Körper ist Sinnlichkeit. Wenn das nicht sein sollte, hätten wir vom Göttlichen gar keinen Körper bei der Geburt erhalten. Darum ist es der göttliche Wille, daß wir unsere Sinne gebrauchen, verfeinern und in höchster Form zelebrieren. Der Tantriker entkommt der abstumpfenden Reizüberflutung der modernen Welt durch Achtsamkeits-Übung und Meditation. Die Wahrnehmung verschärft sich deutlich durch diese Praktiken. Ja, wahrscheinlich ist es der Sinn des Lebens, die Sinnlichkeit zu feiern. Durch Sinnlichkeit (Sensualität) gelangen wir zum Sinn. Die Schönheit in aller sinnlichen Wahrnehmung zu erkennen, ist wahrer Gottesdienst.

d) und Sensualität

ist der spannungsreiche Kontakt eines Sinnesorganes mit einem Reiz. Es ist das Wahrnehmen von zweien, die sich berühren und vereinigen möchten zu einem. Es ist der natürliche Zustand sich mit dem Schönen zu vereinigen. Deshalb spielt die sinnliche Vereinigung im klassischen Tantra immer eine zentrale Rolle. Da mit der Vereinigung auch die machtvollsten Vorgänge der Menschheit, Zeugung und Empfängnis verbunden sind, liegt es nahe, das hiervon ungeheure Energien ausgehen, die Tantra sich zunutze macht.

Lucian Loosen über die Mythologie von Shiva und Shakti

Lucian über die Ikonographie und Mythologie des urweiblichen Prinzips (Shakti) und des urmännlichen Prinzips (Shiva) im indischen Raum:

Auf vielen Thangka (Wandbehänge) sind Shakti und Shiva dargestellt. Der Körper von Shakti ist rot und versinnbildlicht dynamische Weiblichkeit, die schöpferische Kraft, Leidenschaft und sinnliche Energie, die die eigentlichen Qualitäten von Shakti sind. Sie bringt den ständigen Evolutionsprozeß des Kosmos in Gang. Der Kosmos selbst ruht; er verhält sich so passiv wie Shiva. Nur im Zusammenspiel mit der weiblichen Shakti kann er sich entwickeln und seine unendliche Vielfalt von Schöpfungen und Zerstörungen hervorbringen.

Deswegen ist Shakti die Verkörperung aller Energie. Ohne sie würde jede männliche Gottheit zur Leblosigkeit erstarren. Von allen Göttern ist ihr insbesondere Shiva zugetan; vielleicht weil er als “Rudra-Shiva” eine sehr alte, vorarische Gottheit ist, also “naturhaft” genug, mit der “Schöpferin der Welt” (jagadmatr) eine Verbindung einzugehen. Shiva ist Shakti nicht überlegen. Als ruhendes, unveränderliches Bewußtsein (purusa) tritt er erst durch die aktive Urnatur (prakrti) in Erscheinung. Die Göttin ist gleichwertige Partnerin.

Da die Shakti erst sehr spät als eigenständige Erscheinung in das hinduistische Götterpantheon aufgenommen, zugleich aber mit unzähligen lokalen Göttinnen identifiziert wurde, steht der Betrachter und Gläubige vor einer nahezu unüberschaubaren Vielfalt von Göttinnen mit den verschiedensten Bezeichnungen, ausgerüstet mit einer Vielzahl möglicher Attribute.

Oft erscheint sie im Lotussitz. Sie trägt das Auge der Weisheit und reichen Schmuck, der aus Goldgeschmeide und zugleich auch aus einer Girlande abgeschlagener Menschenschädel besteht – ein Symbol dafür, daß sie friedliche und schreckliche Wesenszüge in sich vereint. Der Lotussitz deutet an, daß sie in tiefer Kontemplation verweilt. Das Auge der Weisheit in der Mitte ihrer Stirn unterstreicht dies, denn sein “unverhülltes Sehen” ist hauptsächlich nach innen gerichtet, ein Zeichen “ewiger Kontemplation”. Wenn dieses Auge der Weisheit dagegen nach außen gerichtet ist, wirkt es zerstörerisch oder – besser gesagt – transformierend, denn es hebt dann die Dualität der Erscheinungen auf.

In ihren vier Händen hält Shakti auf manchem Bild: Stachelstock (ankusa, in der rechten oberen Hand); Pfeile (bana, in der rechten unteren Hand); Schlinge (pasa, in der linken oberen Hand) und Bogen (dhanus, in der linken unteren Hand).
Der Stachelstock bedeutet, daß sie in all ihren Tätigkeiten Recht und Unrecht unterscheiden kann. Da er ein Attribut kriegerischer Götter ist, unterstreicht er hier überdies die furchtbare und “rasende” Seite der Shakti. Die Schlinge fesselt jede Art von Verblendung. Pfeil und Bogen bedeuten die Integration von männlich (Pfeil) und weiblich (Bogen). Ferner stehen sie für die zwei scheinbar entgegengesetzten Pole jeglicher Existenz: Leben (Pfeil) und Tod (Bogen).

Manchmal liegt Shiva in Ruhepose unter der Shakti. Damit gibt er zu erkennen, daß er sich in “kontemplativem Schlaf” ganz der Vereinigung mit Shakti hingibt. Er erscheint als der “große Asket” (mahayogin). Zum Zeichen der Reinheit und Lauterkeit seiner Übungen ist seine Haut “weiß wie Kampfer”. Er ist nur mit einem um die Lenden gewundenen Tigerfell bekleidet und hat eine Girlande aus abgeschlagenen Menschenschädeln um den Hals gewunden. Anstatt der üblichen Geschmeide wie Halskette, Arm- und Fußreifen ringeln sich an diesen Stellen Schlangen um den Körper. Die Schlange ist Symbol der schöperisch-sensuelle Kunda-lini-Kraft.

Eine Legende erklärt: Die heiligen Weisen des Himalayas (rishi) waren einmal sehr erzürnt über Gott, weil ihnen aus Liebe zu Shiva die Frauen davonliefen. Die Weisen taten sich daraufhin zusammen, um Shiva gemeinsam zu besiegen. Zu diesem Zweck schickten sie mit ihren magischen Kräften Giftschlagen und Tiger aus, die ihn töten sollten. Shiva neutralisierte jedoch die gegen ihn gerichteten Kräfte und machte sie sich zu eigen. Die Waffen dieser Weisen hält er seit jener Zeit selbst in den Händen: das Tigerfell ist sein Lendenschurz, die Schlangen sein Schmuck. Vielleicht kein Zufall, daß auch in unserem Kulturkreis die Schlange für sinnliche Kraft und Erkenntnis steht.

Wie Shakti verkörpert auch Shiva eine sehr alte vorarische Schicht indischer Religiosität. Er ist zwar schon lange den arischen Göttern wie Brahma und Vishnu gleichgestellt, hat sich aber trotzdem über die Jahrtausende seinen naturhaften Charakter bewahrt. Er ist immer noch den Stürmen, den Krankheitsepidemien und dem Tod viel näher als die anderen beiden großen Götter. Deswegen verkörpert er in der Trimurti (der Dreiheit von Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung) den Aspekt der Zerstörung. Außerhalb dieser Dreiheit besitzt er jedoch auch milde und friedvolle Züge. Er ist Helfer und Heiler der Wesen (pasupati) und trägt insgesamt 1008 Namen.

Shakti und Shiva ruhen auf einer Plattform, die in der Mitte von einem Sri Yantra getragen wird. Darin ist die Vereinigung von weiblicher und männlicher Energie, die sich im Bild in Göttin und Gott manifestiert, nochmals dargestellt – diesmal in abstrakter Form.

Das Sri Yantra besteht aus neun ineinander liegenden Dreiecken. Die vier nach oben zulaufende Dreiecke symbolisieren Kräfte, die in Shiva verkörpert sind; die fünf nach unten zulaufenden Dreiecke hingegen Kräfte der Shakti.

Was bewirkt Kularnava®-TANTRA? (von Lucian)

1. Reinigung

Zunächst wird der Körper gereinigt durch Körper- und Atemübungen sowie die richtige Ernährung. Er fängt dann mehr an zu leuchten und zu strahlen. Er kann viel Energie aufnehmen und transformieren.

2. Befreiung

Dann werden emotionale Hemmungen und Ängste abgebaut. Negative und selbstzerstörerische Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen werden bewußt gemacht. Es passiert eine Dekonditionierung durch emotionale Befreiung und emotionalen Ausdruck. Jetzt kommen automatisch die “guten” spontanen und lebensbejahenden Impulse aus dem Inneren ans Tageslicht.

3. Konzentration

Der Geist wird maßvoll zu Ausdauer, Geduld und Konzentration geschult.

Anfachung des Inneren Feuers

Die Kraft der Emotionen, die vitalen und sinnliche Kräfte der unteren Chakren werden angefacht und in Fluß gebracht. So entsteht für jeden Lebensausdruck ein Kanal (Resonanz-Entsprechung) und genügend Energie.

Vereinigung und Ekstase

Momente des völligen Eins-Seins oder hundertprozentig im Fluß-Seins, ohne jedes Abgetrenntsein entstehen. Diese Art von Wonne ist die Erfüllung unseres Mensch-Seins. Wer sie einmal gekostet hat, vergißt sie nicht mehr und ein Teil dieser Erfahrung bleibt für immer und hat Dich für immer verwandelt.